Franz Gruss
Leben und Schaffen
Der Name des Malers, Grafikers und Bildhauers Franz Gruss (1891–1979) ist heute nur noch wenigen ein Begriff. Damit bietet sich die Gelegenheit, ein Werk wiederzuentdecken, in dem technische Perfektion auf den Anspruch trifft, nicht abzubilden, sondern zu gestalten, niemals zu beschönigen, sondern im Besonderen das Allgemeingültige zu finden.Wie konnte dieser Künstler in Vergessenheit geraten? Die Erklärung liegt in biographischen Wirrungen, die wiederum die europäischen Erschütterungen des 20. Jahrhunderts widerspiegeln.
Franz Gruss’ Geburtsstädtchen Graslitz, das heute tschechische Kraslice, war fast ausschließlich von Deutschen bewohnt. Nach der Matura zog er, wie so viele junge deutschböhmische und -mährische Künstler, nach Wien. Hier wechselte er bald, von der Akademie der bildenden Künste enttäuscht, an die Spezial-Malerschule von Professor Alois Delug, der in Grinzing ein Mittelding zwischen Akademie und Künstlerkolonie gegründet hatte, selbst jedoch noch am historischen Akademismus des 19. Jahrhunderts haftete.
1914 riss der Weltkrieg den jungen Gruss in sein Chaos: Er musste einrücken und geriet bald in russische Gefangenschaft. Die entsetzlichen Erlebnisse der folgenden drei Jahre sollten ihn fürs Leben prägen. Trotz Hunger, Elend und Krankheit hörte er nie auf zu skizzieren, zu malen und zu schnitzen. Im März 1918 konnte Gruss fliehen und bald in Wien bei Professor Delug weiterstudieren. Schon 1919 erhielt er den sogenannten l’Allemand-Preis der Akademie für sein Bild „Grablegung“, viele Ausstellungen im Künstlerhaus und in der Sezession folgten. Gustav Klimt schätzte er vor allem als Zeichner, mit Egon Schiele besuchte er gemeinsam Aktzeichenkurse. In diese Zeit fällt auch die Bekanntschaft mit Werken jener beiden Maler, die Gruss später als seine wichtigsten Einflüsse nennen sollte: Mit Albin Egger-Lienz verband ihn die Konzentration auf soziale und religiöse Themen ebenso wie reduzierte, ausdrucksstarke Silhouetten. Gruss ordnete sich damit in das ein, was damals als „gemäßigter Expressionismus“ bekannt war.
Der andere war der Schweizer Ferdinand Hodler, der seine ganz eigene Haltung und Suche nach Werten mit dem Jugendstil verband.
1924 kehrte Gruss nach Nordwestböhmen zurück, wo sein Blockhaus in Nancy sich zu einem kulturellen Zentrum entwickelte. Hier hielt er Kurse in Aktzeichnen, Malerei, hier trafen sich Lehrer, Studenten, Künstler, Politiker, Schriftsteller und viele mehr.
Um 1940 lernte Gruss die junge Elsbeth Kaiser kennen, die im Erzgebirge Schiurlaub machte. Doch bald musste er zum zweiten Mal einrücken.
Während eines Heimaturlaubs 1941 heiratete er Elsbeth, und bereits 1942 kehrte er vom Wehrdienst zurück. Ende Februar 1946 musste die Familie wie Millionen andere Deutschsprechende die damalige Tschechoslowakei (das Sudetenland) verlassen. Er war immer Österreicher. Ein Großteil seines Werkes blieb zurück. Bis 1979 lebte Gruss in Wien und Matrei, wo sein Freund Julius Frieser ein Haus besaß.
Als Künstler stand Gruss zunächst dem Expressionismus nahe, fand aber bereits hier seine eigene, sachliche Sprache. Ihm ging es nicht um Details, sondern um den Gesamteindruck, der gleichsam einen Blick ins Innere der Figuren gestattet, die sich nicht selten in Grenzsituationen befinden, so etwa die „Mutter mit ertrunkenem Kind (1925)“.
Nancy mit seinem ganz anderen Lebensrhythmus und der Landschaft des Erzgebirges brachte eine neue Wendung in Gruss’ künstlerischen Ausdruck. Menschliches Leiden spielt eine immer geringere Rolle, stattdessen treten die raue Landschaft, die Bergleute und Holzarbeiter in den Vordergrund. Das Ölgemälde „Pflüger“ (1929) bleibt nicht bei einer Darstellung des harten Bauernalltags stehen, sondern abstrahiert Landschaft, Mensch und Zugtiere zu einer konzentrierten Darstellung unbezwingbarer Anstrengung. Hier wie in seinem ganzen Werk zeigt sich stilistisch ein Primat der Form gegenüber der Farbe, die Erfassung einer Situation mit wenigen Strichen, inhaltlich der Respekt für den Menschen, sein Bemühen und sein Schicksal. So bewegt sich Gruss, ohne den Expressionismus ganz zu verlassen, allmählich hin zum Realismus, zu beobachten an Darstellungen des Alltags in der Graslitzer Region, von „Frau am Trog“ (1929) bis „Auf der Hochalm“ (1950) oder „Egerländer Bauerntanz“ (1962).
Zeit seines Lebens bezog Gruss die Inspiration für seine landschaftlichen Werke, die bisweilen geradezu animistisch anmuten, aus den Wäldern und Bergen der Region um Graslitz. Gleichzeitig erwarb er zu Recht einen Ruf als gesuchter Porträtist. Das Porträtieren begleitete ihn von der russischen Gefangenschaft bis ans Ende seines Lebens. Dazu kommt seine charakteristische Fähigkeit zur geschlossenen, auf den ersten Blick überzeugenden Komposition, die seine Akte so lebendig und unkonventionell wirken lässt. Besonders faszinierte ihn die Technik der Buon-fresco-Malerei, also das Malen in frischem Kalkputz, da man „bei keiner anderen Malart“ derart konzentriert bei der Sache sein müsse, wie er selbst bemerkte.
So nahm Franz Gruss unmittelbar am künstlerischen Aufbruch des Wiens nach 1900 teil, stand mitten in den großen Erschütterungen beider Weltkriege und geriet danach doch weitgehend in Vergessenheit – ungeachtet seines Talents und seiner Verdienste als Zeichner, Maler und Bildhauer.